Während ich an meinem Schreibtisch darüber nachdenke, was ich Ihnen aus der AMARE an Neuigkeiten berichten kann, höre ich aus dem Nachbarraum, wie unser Kinderchor und, aus dem Garten draußen, wie unsere Flötengruppe für das Weihnachtsfest proben. Aus etwas weiterer Entfernung nehme ich Trommeln wahr. Der Wind weht fröhlich säuselnd. Vom Kinderspielplatz kann ich ein heiteres Treiben mit Gelächter und frohen Rufen vernehmen. Tiefer Frieden kommt in mir auf. Ich bemerke, dass ich wieder durchatmen kann. Endlich scheint alles doch wieder gut zu werden.
Aber für zu lange Zeit war das nicht so. Ich werde die stumpfen und hoffnungslosen Kindergesichter nicht vergessen. Ihr Anblick erschien mir gleichzeitig erschreckend und herausfordernd. Ohne Schule, ohne die AMARE und ohne den Schutz einer Familie waren sie plötzlich alleine auf sich gestellt, Menschenseelenallein. Ein abgründiger Schlund gleichsam tat sich zu Beginn der Pandemie vor ihnen auf, in den sie hineingerissen zu werden drohten.
Kinder aus Elendsvierteln entbehrten der Schulspeisung und eines ordentlichen Mittagessens bei uns in der AMARE.
In nicht seltenen Fällen wurden Kinder zu Hause von den eigenen Eltern in ihrer Hütte eingesperrt und in eine lange Depression gestürzt.
Anderen gelang es, auf die Straße zu entkommen, um sich mit Gefährten zusammen zu rotten und so zu überleben. Sie verkauften geröstete Maiskolben am Flusskai oder begingen auch kleine Diebstähle.
Wieder andere meninos und meninas wurden zum Zusammenleben auf kleinstem Raum mit Menschen gedrängt, welche ihnen, - trotz einer häuslichen oder nachbarschaftlichen Nähe zueinander, nicht wohl gesonnen waren. Diese Kinder waren Missbrauch und Hunger ausgesetzt.
Unserem Team AMARE waren offensichtlich die Hände gebunden, wurde uns doch von allen Seiten unausweichlich eingehämmert: Bleiben Sie zu Hause!
Die öffentlichen Schulen schlossen und sind bis heute - nach 600 Tagen - noch immer geschlossen! In der Zeit sind ihre Dächer eingefallen, die Schulgebäude verfallen. Durch die Klassenzimmer treiben sich anstelle der Kinder Ratten und anderes Ungeziefer herum. Fernunterricht über das Internet ist lediglich Kindern wohlhabender Familien vorbehalten. 70
Prozent der Kinder haben keinen Kontakt mit der Schule.
Der allgemeinen Panik zum Trotz stellten wir uns mit „bürgerlichen Ungehorsam" entgegen und bestärkten uns gegenseitig: Wir haben die Pflicht, unsere Kinder nicht einem solchen Schicksal zu überlassen. Immer wenn ich unseren Kindern draußen in der Stadt begegnete, erschrak ich und merkte, daß ich mit mir nicht "im Reinen" war. Bei einem Wachtraum während einer schlaflosen Nacht traf ich ein Idol, - den jüdischen Kinderarzt Janusz Korczak. Im Jahre 1942 hatte er, von den NS - Besatzern überwältigt, seine ihm anvertrauten Waisenkinder aus dem Warschauer Ghetto bis in das Vernichtungslager mit begleitet, obwohl er hätte fliehen können.
Ich fühlte mich miserabel. Der Schock löste mich aus psychischer Blockierung; ein Zögern gab es nicht mehr: ich wußte plötzlich ganz genau, was ich zu tun hatte und spürte den Willen Gottes in dieser Situation.
Das Team AMARE, bestehend aus ErzieherInnen und Freiwilligen, ließ sich mitreißen und wollte bewußt christliches Handeln gegen Untätigkeit, bloßes Zusehen, Verzagen und Verzweiflung setzen. Täglich trafen wir uns früh morgens zu gemeinsamem Gebet. Das hat uns geholfen, ohne Schäden an unserer körperlichen und geistigen Gesundheit durch diese Zeit zu kommen. Wir haben damit die Kraft zum Handeln zurückgefunden. Wir lasen in dieser Zeit, gemeinsam und mit wachsender Begeisterung, die Enzyklika unseres Papstes Franziskus Tutti Fratelli. Wir suchten und fanden für unseren Einsatz Licht und Orientierung aus dem Glauben.
Danach gehörten Weinerlichkeit und die Angst vor dem Virus der Vergangenheit an. Durch eine außerordentliche logistische Operation wurden 68.000 Mittagessen, - täglich erst hundert und später bis zu vierhundert -, an die Kinder in ihre Hütten an der Peripherie oder im Landesinneren gebracht. Wir wurden von Motorradstaffeln unterstützt, die sich unter extremen Bedingungen an dreihundertvierzig Tagen - egal, ob bei glühender Äquatorsonne oder bei tropischem Unwetter - zu ihren Fahrten aufmachten. Dabei konnten hunderte kranker Kinder in Notsituation ausgemacht und ihnen mit psychologischen und ärztlichen Behandlungen geholfen werden.
Unsere MitarbeiterInnen erlebten Schlimmes. Sie berichteten nicht nur von Motorpannen, leider auch von Vergewaltigungsversuchen und Überfällen. Kinder mußten vor dem eigenen Vater in Sicherheit gebracht werden, weil er ihnen das Mittagessen „abgejagt“ hätte.
Aus wohl unfassbarer Gemeinheit setzten wiederholt anonyme Denunzianten aus dem Umkreis der Komunalverwaltung alles daran, über eine Justizanordnung die AMARE schließen zu lassen. Die Staatsanwaltschaft stellte sich aber glücklicherweise schützend vor die AMARE und ihre Kinder.
Am 3. Mai diesen Jahres konnten wir endlich wieder die Tore der AMARE für die Kinder öffnen! Grundlage hierfür war eine Sondergenehmigung mit dem Argument, daß unsere Kinder besonders sozial verwundbar seien. Die psychischen Schäden, durch Angst und soziale Distanz entstanden, sind enorm! Das schulische Defizit ist wahrscheinlich für die meisten Kinder irreparabel. Über 50 Millionen brasilianischer Kinder aus sozial schwachem Milieu warten immer noch darauf, daß die letzten Lehrer und Kinder geimpft werden, um dann endlich wieder Schulunterricht bekommen zu können. Aber bis dahin müssten auch die Schulen renoviert worden sein....!
Unsere Solidaraktion wuchs in diesen dunklen Zeiten zu einem gewaltigen Zeichen und Werkzeug der sorgenden Liebe Gottes unter den Kindern Esperantinas heran. Daß so etwas möglich war, verdanken wir seit drei Jahrzehnten verlässlichen Helfern und Freunden aus der deutschen Heimat sowie der hell leuchtenden Solidaraktion der Siegburger Sternsinger und Sternsingerinnen. Ihr Beispiel hat viele, besonders junge Menschen hier in Esperantina im Nordosten Brasiliens angespornt, Kinder in Not als ihre hiesige gesellschaftliche Verantwortung zu erkennen und sich an der Hilfe zu beteiligen. Es wächst die Hoffnung, daß in nicht allzu langer Zeit die Saat der Nächstenliebe aufgeht und so die AMARE ihrem Leitmotto aus dem ersten Korintherbrief gerecht wird: Liebe bewältigt alles.
In tiefer Dankbarkeit und Verbundenheit wünsche ich Ihnen allen ein gesegnetes Weihnachtsfest im Kreise der Menschen, die Sie lieben und die Ihnen anvertraut sind.
Aus Esperantina / Brasilien grüßt Sie herzlich mit einem Feliz Natal
Ihr Johannes Skorzak
Gründer AMARE
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